Musikantendorf

Da die kleinen Bauernhöfe in Aschbach, so wie in vielen anderen Dörfern im 1900 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr alle ernährte, zogen immer mehr Musiker in die Welt, um ihre Familien zu ernähren. Allein im Jahre 1909 waren 73 Musikanten aus Aschbach in der ganzen Welt unterwegs.

 

Über einen der Berühmten seiner Zunft, den aus Aschbach stammenden Rudolf Mersy möchten wir ihnen nun eine kleine Biografie geben, die wir dem Westpfälzer Wandermusikantentum im Lichte musikwissenschaftlicher Untersuchung von Paul Engel entnommen haben.

 

Eine Sonderstellung innerhalb des Berufsbildes eines Volksmusikkomponisten nimmt in mancherlei Beziehung Rudolf Mersy (02.10.1867- 30.05.1949) ein. Schon früh in seinem Leben wurde er allgemein von seinen Mitmenschen liebevoll als „Aschbacher Mozart“ bezeichnet. Der Vater Philipp Mersy nahm den kleinen Rudolf zusammen mit der Mutter Anna schon als Kind mit auf Reise nach Edinburg in Schottland. Hier soll der Junge seine Kindheit verbracht und eine Musikschule besucht haben, auf der er sich das nötige Rüstzeug für seine spätere kompositorische Tätigkeit aneignete.

 

Zum 17. Geburtstag, wieder zu Hause in Aschbach, schenkten ihm seine Eltern ein Klavier, das von der Klavierbauerfirma Eichler aus dem nahen Oberweiler (später Hinzweiler) stammte. Es soll neben Geige und verschiedenen Blasinstrumenten sein Haupt- und wohl auch Lieblingsinstrument werden und dem Komponisten Mersy wertvolle Dienste leisten. Typisch war die Nutzung eines Tasteninstrumentes für einen Wandermusikanten, allein wegen seiner Unbeweglichkeit, sicher nicht. Das heißt aber auch, dass den Meisten der komponierenden Wandermusikanten das Klavier nicht die Möglichkeit bot, diese oder jene Stelle seiner Komposition einmal zu probieren, um gewisse Unebenheiten zu glätten und das eine oder andere verbessern zu können. Es konnte einer Kontrolle durch das Ohr nicht standhalten. Um die 600 Werke, wie Märsche, Walzer, Polkas, Charakterstücke, Selections und Fantasien, sollte Mersy während seines langen Lebens schreiben.

 

Ob in der Tatsache der Fruchtbarkeit seines Schaffens allein schon der Grund für seinen Beinamen zu suchen ist oder der bereits in der Kindheit, wie beim ‚„, Wunderkind“, einsetzende Schaffensprozess die Ursache war, lässt sich mit Bestimmtheit nicht sagen. Im Hinblick auf das Genre seines Schaffens wäre allerdings der Beiname „Aschbacher Johann Strauß‘ wohl angebrachter gewesen. Etwa 60 Werke konnten inzwischen wiederentdeckt werden. Das Übrige bleibt vermutlich unentdeckt, da verbrannt in der Kriegszeit (nach Auskünften von Tochter und Schwiegersohn sind beim Saarländischen Rundfunk Saarbrücken während der Kriegswirren viele, zur Ansicht überstellte Sachen Mersys verloren gegangen oder unachtsam weggeworfen worden.

 

Das Aufgefundene erlaubt dennoch einen Überblick über das Gesamtschaffen, da sämtliche drei Phasen der Entwicklung durch genügend Beispiele zu belegen

sind.

 

Bis in die Jahre um 1900 reicht die Schaffensperiode seiner schottischen Jugendzeit. Seine australisch - neuseeländische Phase schließt ab mit der Internierungszeit um 1920. Die dritte und letzte Periode, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, endet mit Beginn des II. Weltkrieges, der wohl auch ihm „die Stimme verschlagen hatte“.

Rudolf Mersy 1913 in Neuseeland
Rudolf Mersy 1917 in Neuseeland

Da rund die Hälfte der wiederaufgefundenen Kompositionen Märsche sind (36 Titel), welche aus all seinen Kompositionsperioden stammen, ist es möglich, von einer Untersuchung dieser Tänze Aufschluss über die Entwicklung seines Stiles zu erwarten. Der bekannteste seiner Märsche stammt aus der Zeit kurz nach 1916 und trägt den Titel „Seeadler“. Es bezeichnet den Namen des Dreimasters von Graf Luckner (1881 - !966), mit dem er im I. Weltkrieg die Seeblockade brach und auf gänzlich unblutige Weise vierzehn feindliche Schiffe kapern konnte. Auf der Heimreise aus der Internierung auf Neuseeland (1920) soll Mersy dem Grafen, der zum Idol der Nachkriegsjugend werden sollte, persönlich begegnet sein. Die Angehörigen Rudolf Mersy jedenfalls wissen von einem Foto des Grafen Luckner mit der Widmung ‚Meinem lieben Freund Rudolf Mersy“.

 

Die Märsche der ersten Schaffensphase Mersys sind gekennzeichnet durch eine fast schulbuchmäßig zu nennende strenge, symmetrische Form: Einem, von seiner 4 – 8taktigen Einleitung eröffneten, zweiteiligen Hauptteil zu je 16 Takten (Schema: A://B: //). Der erste Teil des Trios bringt zur Hauptmelodie in den Oberstimmen eine Gegenmelodie in den Mittelstimmen, die sich motivisch - imitatorisch an die Hauptstimme anlehnt.

 

Der zweite Teil enthält ein Bass-Solo. Der Modulationsplan bringt keine Überraschungen: Verbindungen der Hauptstufen und Modulationen innerhalb der Quintverwandtschaft sind die Regel. Dieses Aufbauschema entspricht dem auch in etwa der geläufigen Norm von Märschen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

 

In der zweiten Schaffensphase taucht bei Mersy eine Formerweiterung des Marsches auf, die ihn zu einer Art Konzertmarsch werden lässt.

 

Besonders bemerkenswert ist dabei ein, in das ursprünglich zweiteilige Trio eingebauter, selbstständiger Zwischenteil in der Subdominantparallele, also ein kontrastierender Moll-Teil. (Insgesamt feststellbar in 16 Fällen!). Während die beiden Teile des Hauptteils (A) mit je 16 Takten Länge verhältnismäßig starr symmetrisch bleiben, ist der Mollmittelteil des Trios metrisch besonders unregelmäßig angelegt und bringt Abschnitte mit variabler Länge von 8, 12, 14, 16, 17 und 24 Takten. In seiner modulatorisch, tonartlich und metrisch begründeten Unruhe schafft er also ein echtes Gegengewicht zu den stabilen Außenteilen. Rudolf Mersy hat gelernt, sich vom starren Korsett einer vorgegebenen Form zu lösen und frei mit ihr umzugehen. Wie sehr dieser Formteil des Trios eine für Mersy typische Erscheinung ist, bestätigt die Untersuchung von 70 beliebten Märschen aus der Feder der bedeutendsten Marschkomponisten und weiterer 16 Märsche von westpfälzischen Komponisten: Lediglich drei Werke dieser Art kennen die beschriebene Eigenform Mersyscher Gestaltung ebenfalls. Die Spätphase in Mersys Schaffen baut formal auf den Gestaltungsprinzipien der zweiten Phase auf. Der Modulationsplan dagegen und die Harmonik gewinnen an Spannung und Farbe, durch die häufige Verwendung von Zwischendominanten und Medianten. Die Instrumentation vieler Werke wird in der Zeit des Heimataufenthalts – Mersy-hatte ja „seine Reise beendet“ - dicker, denn er musste vorwiegend für die großen Blaskapellen der mitgliederstarken, ständig sich vergrößernden Kapellen der 20-er oder für die aus Propagandagründen gebildeten Repräsentationsorchester der 30-er Jahre schreiben.

 

Der Bläsersatz wird dreistimmig besetzt, Saxophone gehören zum Standard und die Hörner (vor der Spätphase meist Es-Sax-Hörner) sind vierfach besetzt. Die Titel der Märsche spiegeln Begebenheiten, Begegnungen mit Menschen oder Aufenthaltsorte aus Mersys Lebensbereich, wie Namen enger Angehöriger, Dorfnamen der näheren Umgebung, Schiffsnamen, auch Vaterländisches, Reisestationen und ähnliches.

 

Das Leben Mersys war so sehr von musikalischen Einfällen erfüllt, dass seine dörfliche Existenz nach 1920 in Aschbach nicht immer auf das Verständnis seiner bäuerlichen, auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Umwelt stieß. Dass sein eigener Bauernbetrieb dennoch florierte, war gewiss mehr der Verdienst von Ehefrau und Töchtern, die dem in geschäftlichen Dingen wohl doch etwas einfältigen, weltfremden Meister das Verweilen „im Reich der Töne“ ermöglichten.

 

Der Kompositionsvorgang soll nach Aussage der Tochter Ella sehr unvermittelt eingesetzt haben. Jederzeit hätte Mersy ein Stück Papier und einen Bleistiftstummel zur Hand gehabt, die es erlaubten, jeden Einfall auch den nächtlichen oder den auf einem Spaziergang sich einstellenden, sofort zu skizzieren. Später habe er dann die Gedanken am Klavier fein säuberlich zu Papier gebracht und für die Zwecke seiner praktischen Aufführung instrumentalisiert.

 

Die Qualität seiner Erzeugnisse verstärkt das Bedauern darüber, dass so vieles von seinem Schaffen wohl unwiederbringlich verloren ist. Doch verschafft das wenige Erhaltene einen Einblick in die Solidarität der Arbeit und das handwerkliche Geschick dieses Wandermusikanten. Es zeigt sich exemplarisch, wozu das Gewerbe fähig war und was in günstigeren Zeiten möglicherweise noch hätte von ihm erwarten dürfen.


Quellennachweise

  • Dieter Leonhardt – Aschbach ein Musikanten Dorf (Festzeitung zur 850-Jahrfeier im Jahr 2020)
  • Musikantenlandmuseum in Kusel